Es ist neben „Wie geht man in der ISS auf die Toilette?“ eine der Fragen, die den Raumfahrtagenturen weltweit am häufigsten gestellt werden: „Wie werde ich Astronaut?“ In den vergangenen dreizehn Jahren fiel zumindest bei der ESA die Antwort durchgängig enttäuschend aus, nämlich mit dem Hinweis, dass gar keine neuen Astronauten ausgebildet würden und man auf die nächste Bewerbungsrunde warten müsse. Aber genau die beginnt nun in wenigen Wochen! Und das Beste: Sobald die neuen Astronauten etwas erfahrener sind, könnten sie sogar am Artemis-Programm teilnehmen. Wenn das keine Motivation ist!?
Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Bewerbung ist zunächst die passende Staatsangehörigkeit aus einem der ESA-Mitglieds- oder Partnerstaaten. Dazu ein abgeschlossener Masterstudiengang der Computer-, Ingenieur- oder Naturwissenschaften, Medizin eingeschlossen. Aber auch Testpiloten sind als Bewerber willkommen. Darüber hinaus sollte jeder Bewerber schon zum Zeitpunkt der Bewerbung drei Jahre Berufserfahrung auf seinem Fachgebiet vorweisen, neben seiner Muttersprache fließend Englisch sprechen und am besten noch mindestens eine weitere Sprache beherrschen. Auch gesund sollten die Kandidaten grundsätzlich sein. Das Höchstalter für Bewerbungen beträgt 50 Jahre.
Was die Arbeitsbedingungen angeht, darf ein zukünftiger Astronaut nicht zimperlich sein: Flexibilität, physische und psychische Belastbarkeit sowie ein hoher Grad an Motivation sind ein Muss, um das Auswahlverfahren und die Ausbildung zu überstehen. Aber auch Teamfähigkeit und Toleranz sind gefragt. Der Beruf des Astronauten erfordert ein hohes Maß an Anpassungsfähigkeit an bzw. Kooperation mit Menschen aus anderen Ländern und Kulturen. Astronauten sind alles andere als Einzelkämpfer. Wer ins All fliegen möchte, um wie ein Eremit der Gesellschaft auf der Erde zu entfliehen, sollte den Beruf des Astronauten besser schnellstens aus seinem Lebensentwurf streichen. Ähnliches gilt allerdings auch für Kandidaten, die sich längere Trennungszeiten von ihren Partnern und Familien nicht vorstellen können. Lange Abwesenheiten sind unvermeidlich, da die Ausbildungsstätten über den ganzen Globus verteilt sind und die Trainingseinheiten mehrere Monate dauern können.
Während der gestrigen Presseveranstaltung der ESA, an der auch mehrere Mitglieder des aktuellen Corps teilnahmen, wurde schnell klar, dass Astronauten obendrein gute und vor allem bereitwillige Kommunikatoren sein müssen. Nicht nur, um sich in verschiedenen Sprachen mit ihren Kollegen auf der ISS oder in der Ausbildung verlässlich absprechen zu können, sondern auch für die Öffentlichkeitsarbeit, die ihren Missionen vorangeht bzw. sich ihnen anschließt. Wer einmal darauf geachtet hat, in welchem Ausmaß und über welch langen Zeitraum Astronauten wie Samantha Cristoforetti, Thomas Pesquet oder Alexander Gerst europaweit „herumgereicht“ werden, wo sie überall auftreten müssen und mit welch diversem Publikum sie es dabei zu tun bekommen, hat sicherlich festgestellt, dass es bei diesem Beruf nicht nur um wissenschaftliches Arbeiten geht. Sondern auch darum, diese Arbeit vor der Öffentlichkeit zu erklären und in gewisser Weise rechtfertigen zu können. Bevor man also zu Stift und Papier greift, um das ESA-Formular auszufüllen und sich dem Auswahlverfahren zu stellen, würde ich persönlich empfehlen, dass man zunächst gründlich darüber nachdenkt, ob man auch zu diesem Teil des Jobs bereit ist und die passende Persönlichkeit dafür besitzt. Gute Kommunikation an sich kann man bis zu einem gewissen Grad erlernen. Den Willen dazu und die Freude daran (und an der dauernden Präsenz in der Öffentlichkeit) jedoch nicht unbedingt.
Bis hierhin unterscheiden sich die Kriterien für einen passenden Kandidaten recht wenig von denen der Vergangenheit. Zwei Dinge sind in dieser Bewerbungsrunde jedoch neu:
1. Die ESA ermutigt diesmal explizit auch Frauen, eine Bewerbung einzureichen. In den vergangenen Jahren ist das Bewusstsein dafür gewachsen, dass Frauen zumindest in der europäischen Raumfahrt unterrepräsentiert sind. In der letzten Bewerbungsrunde lag der Anteil der von Frauen eingereichten Bewerbungen lediglich bei ca. 17 Prozent.
Das hängt zum einen damit zusammen, dass Frauen – außer auf dem Gebiet Medizin – auch eine Minderheit in den notwendigen Studiengängen darstellen. Dazu addiert sich das Phänomen, dass gerade Frauen leider dazu tendieren, direkt von einer Bewerbung abzusehen, wenn sie den Eindruck haben, dass ihr Profil nicht hundertprozentig zur Ausschreibung passt. Männer hingegen sind eher bereit, sich auch ohne perfektes Profil zu bewerben. Aus diesem Grund wies die ESA (insbes. Thomas Pesquet) in ihrem Presse-Event mehrfach darauf hin, dass Frauen unbedingt eine Bewerbung einreichen sollten, wenn sie grundsätzlich und generell meinen, den Anforderungen gewachsen zu sein. Eine feste Frauenquote für die neue Astronautenklasse wird es jedoch nicht geben.
2. Zum weltweit allerersten Mal überhaupt wird auch um Bewerbungen von Personen gebeten, die die oben genannten Kriterien erfüllen, gleichzeitig aber auch Fehlbildungen oder Amputationen im Bereich der Füße oder Unterschenkel aufweisen oder eine Körpergröße unter 1,30 m haben. Diese Kandidaten werden zunächst für eine Machbarkeitsstudie Parastronauts gesucht. Ziel der ESA ist eine Analyse aller Faktoren, die es ermöglichen würden, talentierte und qualifizierte Menschen auch dann zu rekrutieren und zu Astronauten auszubilden, wenn ihre Körper nicht der Norm entsprechen. Welche Anpassungen von Materialien und Prozessen wären vonnöten, wie kann die Sicherheit aller Crewmitglieder gewährleistet werden, welche Hilfe würde benötigt, welche Kosten wären mit den Änderungen verbunden? Auf all diese Fragen sucht die ESA ab sofort eine Antwort. Unterstützend und beratend wirkt(e) hier, wenn ich das richtig verstanden habe, übrigens auch das Internationale Paralympische Komitee mit. Die Begrenzung auf die genannten Beeinträchtigungen ist dabei – so hofft man zumindest – nur ein erster Schritt. Sollte das Projekt erfolgversprechend sein, würde es in Zukunft auch ausgeweitet.
(Anmerkung: Ich persönlich, als Tochter blinder Eltern, halte dieses Vorhaben für eine großartige und längst überfällige Idee. Ich vermute, man wird bei der ESA noch überrascht und erfreut sein über den Grad an Anpassungsfähigkeit, das Durchhaltevermögen, das Improvisationstalent, die Kooperationsbereitschaft und den Ideenreichtum, den diese Kandidaten mit ins Spiel bringen werden.)
Einreichen können alle Interessenten ihre Bewerbungen im Zeitraum vom 31. März bis zum 28. Mai 2021.
Zwischen Juni 2021 und Mai 2022 finden das Screening der Bewerber sowie diverse Untersuchungen und Tests der Vorauswahl statt.
Für Juli bis September 2022 sind eingehende Interviewrunden und für Oktober 2022 die finale Auswahl und deren Bekanntgabe geplant.
Gesucht werden vier bis sechs neue Astronauten und ca. 20 Backup-Kandidaten.
Eingehendere Infos der ESA zum Beruf des Astronauten und zum Bewerbungsprozess finden sich => hier.
In den sozialen Medien lohnt sich, die Hashtags #YourWayToSpace oder #ESArecruits zu verfolgen.
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