Ich habe falsch gedacht. Ich dachte nämlich, der persönliche Aspekt der Reise nach Kourou gehöre nicht in ein Raumfahrt-Blog. Aber das war ein Irrtum, und um den zu korrigieren, mache ich im Folgenden zunächst einen kleinen Abstecher in die Vergangenheit meiner Familie:
1944: Mein Großonkel Wolfgang ist im bzw. nach dem 2. Weltkrieg Kriegsgefangener in Frankreich. Er verliebt sich dort in Annie, eine Französin, und sie sich in ihn. Eine Gruppe von Einwohnern ihres kleinen Städtchens gerät darüber in Wut und schert der jungen Frau für diesen vermeintlichen Verrat gewaltsam die Haare ab. Mein Großonkel und sie heiraten trotz aller noch folgenden Schikanen, ziehen dann schnellstmöglich in die Anonymität nach Paris und bekommen dort zwei Söhne, Patrick und Gérard.
Juli 1978: Ich bin neun Jahre alt und meine Eltern unternehmen mit mir meine erste Reise nach Frankreich. Bei einem Zwischenstop mit Übernachtung in Paris lerne ich auch Onkel Wolfgang und Tante Annie mit ihren Söhnen kennen. Wir kochen, lachen und essen gemeinsam. Familie eben. Am folgenden Tag reisen meine Eltern und ich für drei Wochen weiter nach Jullouville bei Granville in der Normandie. Da meine Eltern blind sind und auch kaum Französisch sprechen, übernehme ich bei Einkäufen für unsere Wanderungen die Auswahl und die Kommunikation, so gut ich kann. In einem kleinen Laden im Hinterland geraten wir eines Tages an eine ältere Dame. Sobald sie mich sprechen hört, rutscht ihr das Verkäuferlächeln aus dem Gesicht wie eine Schneelawine vom Dach. Sie weigert sich mich zu bedienen und verschwindet. Ich verstehe nicht, warum.
Januar 2018. Europas Binnengrenzen sind längst offen, die meisten seiner Länder haben seit Jahren eine gemeinsame Währung. Europa ermöglicht seinen Schülern und Studenten Bildung in allen Mitgliedsstaaten; internationale Ehen sind beileibe keine Seltenheit mehr. Europa hat längst die ESA gegründet, baut gemeinsam Raketen und hat Missionen wie Giotto, Rosetta, Helios, Huygens u.v.m. ins All geschickt, um gemeinsam zu forschen. Und ich stehe mit einer Gruppe anderer Deutscher auf französischem Grund und Boden in Südamerika. Drei Herren von der ESA — jeder mit einer anderen Nationalität — haben mit ihren Teams für uns Treffen mit Experten aus zum Teil wieder anderen Ländern organisiert. Sie zeigen uns den europäischen Weltraumbahnhof und die ersten Teile der nächsten Raketengeneration, diese gigantische europäische Kooperation, mit Angestellten aus aller Herren Länder. Und von Feindseligkeit ist nicht die Spur zu bemerken. Im Gegenteil.
Während der Besichtigungen, Interviews und gemeinsamen Mahlzeiten gibt es immer wieder Momente, wo mich dieses Bewusstsein und die Diskrepanz zu den Vorkommnissen von früher plötzlich überwältigt und in voller Größe schwer zu fassen ist. Denn die aktuellen Nachrichten sind auch präsent. Der politische Rechtsruck, der Brexit, Italiens neue Zweifel am Euro, die sporadisch wieder eingeführten Grenzkontrollen einiger EU-Mitgliedsstaaten, Polens faktische Abschaffung der Gewaltentrennung — und so vieles mehr. Auch der Kalte Krieg ist nun plötzlich wieder da. Und ich denke mir: Hoffentlich geht jetzt nicht alles wieder kaputt.
Aber mir wird auch bewusst: Für all die Leute, die ich durch die ESA kennengelernt habe, wird meine Tür immer offen sein, egal was da kommen mag.
Selbst wenn es niemand bemerkt hat: Auch das ist eine Errungenschaft der Raumfahrt, der Wissenschaft. Möglicherweise nicht einmal die kleinste.
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