Titel: „Dans la combi de Thomas Pesquet“, 205 Seiten
Autorin/Zeichnerin: Marion Montaigne*)
Verlag: DARGAUD, Paris 2017
Sprache: Französisch
Den französischen Astronauten Thomas Pesquet kennt mittlerweile wohl jeder, der sich auch nur ansatzweise für Raumfahrt interessiert. Vor fünf Jahren, im September 2013, durfte ich ihn anlässlich der „SocialSpace“-Veranstaltung auf dem Gelände des DLR selbst kurz kennen lernen. Er führte damals auch unsere Gruppe durch eines der Gebäude, in denen sein Training statt fand. Seitdem verfolgte ich Pesquets Karriere bei der ESA und seine erste Mission, Proxima, mehr oder weniger im Hintergrund.
Als es nach jener Mission dann im Herbst 2017 hieß, dass bald eine Biografie über Pesquet erscheinen sollte, freute ich mich. Doch angesichts der Details war ich mir zunächst nicht mehr ganz sicher, ob ich dieses Buch tatsächlich haben wollte. Denn es handelte sich um eine sogenannte „Bande dessinée“ — nur leider sind Comics eigentlich überhaupt nicht mein Fall. Verglichen mit Fließtext verlangsamen sie die Lese- und Informationsgeschwindigkeit enorm, was mich normalerweise ziemlich stört. Andererseits bin ich aber ein großer Fan von Biografien aller Art. Und die Titelgrafik brachte mich spontan zum Lachen. Und obendrein habe ich zwei Kinder, von denen eines nun seit fast zwei Jahren ebenfalls Französisch lernt. Und überhaupt: Raumfahrt! \o/ Irgendwen in diesem Haushalt würde das Buch sicher interessieren.
Mitte dieser Woche habe ich es nun endlich gekauft, am selben Abend durchgelesen und dabei gründlich gestaunt, gelernt und gelacht!
„Dans la combi…“ ist ein Hybrid aus Auto- und reiner Biografie. Die Autorin und Zeichnerin erzählt abgestimmt mit Thomas Pesquet in der Ich-Form dessen Werdegang als Astronaut; von seinen Kindheitsträumen bis hin zur Rückkehr nach der ersten ISS-Mission. (Pesquet ist an diesem Buch übrigens finanziell nicht beteiligt.)
Montaigne hat es dabei geschafft, handfeste Informationen in eine perfekte Mischung aus urkomischen Zeichnungen und Dialogen zu verpacken. Dabei sind Selbstironie und fröhlicher Sarkasmus ebenso vertreten wie hintergründige Anspielungen und stellenweise reinster Klamauk – aber nie ohne Lerneffekt. Viele Kleinigkeiten runden das Leseerlebnis auf witzige Art zusätzlich ab. So ist beispielsweise der „russische“ Teil der Texte ebenfalls auf Französisch verfasst, aber mit zum Teil verdrehten bzw. gespiegelten Buchstaben. Der Text wirkt plötzlich wie kyrillische Schrift, bleibt dabei aber perfekt lesbar.
Einen weiteren Kick erhält das Buch durch kleine „Running Gags“, die sich quer durch die 205 Seiten ziehen. Wie zum Beispiel der immer wieder unverhofft neben Pesquet auftauchende Apollo-Astronaut Buzz Aldrin, der selbst vor einem Auftritt im Schlafzimmer des Ehepaares nicht zurückschreckt. Die Figur des erfahrenen Aldrin stellt allerdings auch Fragen oder gibt Hinweise, die man ansonsten nur forciert im Text hätte unterbringen können. In dieser Form übernimmt Aldrin für den Leser stellenweise die Rolle des klassischen Chores.
Ein anderes Beispiel ist der Gagarin-Kult, ab dem Kapitel, in dem Pesquet erstmals Star City besucht und dabei in diverse diesbezügliche Fettnäpfchen tritt. In einem der Grafik-Panels wird die Verehrung des alten russischen Raumfahrthelden gar zur völlig absurden Heiligen- bzw. Reliquienanbetung überspitzt und liebevoll-ironisch veralbert.
Das Format „Comic“ hat mich in diesem Fall überhaupt nicht enttäuscht, sondern vollkommen überzeugt. Es passt hier einfach, alleine schon deswegen, weil Raumfahrt ein Themenbereich ist, dessen Details man als Otto-Normal-Verbraucher nicht oder nur selten tatsächlich zu sehen bekommt. Die Mischung aus Grafik und Text ist hier genau richtig, denn die beiden Elemente ergänzen sich. Wo Text zu langatmig wäre — zum Beispiel, um die ISS oder die Trainingsstätten zu beschreiben — liefern Bilder schnell die nötigen Informationen. Wo Bilder zu missverständlich sein könnten, ergänzt oder ersetzt sie der Text.
Zeichnungen an Stelle von Fotos haben hier den Vorteil, dass die gewünschten Objekte auch immer in genau dem Detaillierungsgrad und aus der Perspektive zu sehen sind, die für die Geschichte gerade benötigt werden. Soweit ich das beurteilen kann, hat Marion Montaigne sich dabei sehr eng an den tatsächlichen Gegebenheiten orientiert. In der Bibliographie am Ende des Buches weist sie auch auf weitere Informationsquellen hin, wie zum Beispiel auf die Filmdokumentation „Dans la peau de Thomas Pesquet“, auf deren Titel der Buchtitel seinerseits offensichtlich anspielt.
Insgesamt werden enorm viele Aspekte einer Astronautenausbildung und des späteren Einsatzes aufgezeigt und erklärt. Von der Komplexität der Kandidatenauswahl am Anfang bis hin zur Herstellung des Soyuz-Sitzes vor dem eigentlichen Start zur ISS; von den Themengebieten der Ausbildung über die Physik der Schwerelosigkeit bis hin zu medizinischen Aspekten wie Knochen- und Muskelschwund unter Mikrogravitation.
Die Tücken von Raumanzügen, die Lebenserhaltungssysteme und die Abfallwirtschaft auf der ISS kommen ebenso zur Sprache wie die physischen und psychologischen Fallstricke nach der Rückkehr oder die Hierarchie unter den Astronauten. Ich war überrascht von der Fülle der Informationen und von der Tatsache, dass durchaus auch die „großen Fragen“ angesprochen werden: Warum betreiben Menschen Raumfahrt? Wie ist sie zu rechtfertigen, bzw. muss sie sich überhaupt rechtfertigen? Was passiert, wenn ein Astronaut im Einsatz stirbt?
Ob technische Details, Ablauf der Ausbildung oder die Beziehungen des Astronauten zu seinem beruflichen und privaten Umfeld: „Dans la combi …“ ist gleichzeitig lustige Biografie und ernsthaftes Sachbuch. Montaigne hat bei all dem auch immer das Menschliche mit eingefangen:
– Die Veränderungen, die Pesquet an sich selbst bemerkt.
– Wie seine Familie ihn sieht.
– Wie seine Frau und er mit den langen Trennungszeiten umgehen.
– Wie er lernt, mit den Medien umzugehen und sich auch unangenehmen Fragen zu stellen.
– Wie sich das Gefüge zwischen Pesquet und den anderen Astronauten entwickelt.
– Der Mangel an Privatsphäre auf der ISS und dessen Konsequenzen.
– Die eigentliche Rolle der Astronauten auf der ISS.
– Der große psychische Druck der Verantwortung für die Station, die Experimente und auch die Kollegen.
– etc.
Kleine oder größere Eitelkeiten und Rivalitäten, Euphorie, Hoffnungen und Liebe, Anspannung, Zweifel und Ängste, Selbstbetrügereien, der Umgang mit Frust — all das und noch weit mehr findet sich in den Details der Zeichnungen, in den Gesichtern der Figuren und in ihren Dialogen, aber zum Teil auch in den begleitenden Texten. Und auch die eine oder andere Illusion lässt Montaigne auf witzige Art platzen, aber hier will ich natürlich nicht zu viel verraten.
Fazit: „Dans la combi de Thomas Pesquet“ ist bisher das Buch, an dem ich 2018 den meisten Spaß hatte. Man muss auch kein Raumfahrtexperte sein, um es zu verstehen, sondern lediglich ein klein wenig Interesse mitbringen. Ich freue mich, dass ich das Buch trotz meiner ersten Zweifel letztendlich doch gekauft habe. Mit ziemlicher Sicherheit werde ich weitere Exemplare davon auch hier und da verschenken.
Einen Kritikpunkt hätte ich allerdings: Sehr geehrter Herr Pesquet, auf Ihren Hausschuhen hätte ich doch nun wirklich kein NASA-, sondern ein ESA-Logo erwartet! 😉
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*) (Facebook, Blog: Tu mourras moins bête, Twitter: @Prof_Moustache)
astrozwerge
Sehr schön beschrieben. Wie getwittert, wenn ich französisch könnte würde ich es sicher bestellen. Aber nur für die Bilder bringt es sicher nicht so viel. Aber so weiss ich wenigstens um das Buch. Vielen Dank!
Leaving Orbit
@astrozwerge: Vielleicht gibt es ja irgendwann eine Übersetzung. 🙂